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                              Johann
                              Wolfgang von
                              Goethe 
                              Werthers
                              Leiden, 1. Buch 
                              
                              erstellt: Juli 2000 von Martin
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                     1771 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     26. Mai -
                     Am
                     27. Mai 1771
                     - Am
                     30. Mai 1771
                     - Am
                     16. Junius 1771
                     - Am
                     19. Junius 1771
                     - Am
                     21. Junius 1771
                     - 
 
                     
                     -  
 
                     
                     - - weiter
                     zum 29. Junius 1771
 
                     
                     -  
 
                     
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                     Am
                     26. Mai 1771 -
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                     - Du kennst von
                     alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend
                     an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen
                     aufzuschlagen und da mit aller
                     Einschränkung zu herbergen. Auch hier habe
                     ich wieder ein Plätzchen angetroffen, das
                     mich angezogen hat.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ungefähr
                     eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie
                     Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel
                     ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem
                     Fußpfade zum Dorf herausgeht,
                     übersieht man auf einmal das ganze Tal.
                     Eine gute Wirtin, die gefällig und munter
                     in ihrem Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee;
                     und was über alles geht, sind zwei Linden,
                     die mit ihren ausgebreiteten Ästen den
                     kleinen Platz vor der Kirche bedecken, der
                     ringsum mit Bauerhäusern, Scheunen und
                     Höfen eingeschlossen ist. So vertraulich,
                     so heimlich hab' ich nicht leicht ein
                     Plätzchen gefunden, und dahin lass' ich
                     mein Tischchen aus dem Wirtshause bringen und
                     meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
                     meinen Homer.
 
                     
                     -  
 
                     
                       
                     
                     - Goethes
                     "Wahlheim", der Pfarrershof in Sessenheim bei
                     Frankfurt
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Das erstenmal,
                     als ich durch einen Zufall an einem schönen
                     Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das
                     Plätzchen so einsam. Es war alles im Felde;
                     nur ein Knabe von ungefähr vier Jahren
                     saß an der Erde und hielt ein anderes,
                     etwa halbjähriges, vor ihm zwischen seinen
                     Füßen sitzendes Kind mit beiden Armen
                     wider seine Brust, so daß er ihm zu einer
                     Art von Sessel diente und ungeachtet der
                     Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen
                     herumschaute, ganz ruhig saß. Mich
                     vergnügte der Anblick: ich setzte mich auf
                     einen Pflug, der gegenüber stand, und
                     zeichnete die brüderliche Stellung mit
                     vielem Ergetzen. Ich fügte den
                     nächsten Zaun, ein Scheunentor und einige
                     gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es
                     hinter einander stand, und fand nach Verlauf
                     einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete,
                     sehr interessante Zeichnung verfertiget hatte,
                     ohne das mindeste von dem Meinen hinzuzutun. Das
                     bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich
                     künftig allein an die Natur zu halten. Sie
                     allein ist unendlich reich, und sie allein
                     bildet den großen Künstler. Man kann
                     zum Vorteile der Regeln viel sagen,
                     ungefähr was man zum Lobe der
                     bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein
                     Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie
                     etwas Abgeschmacktes und Schlechtes
                     hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze
                     und Wohlstand modeln läßt, nie ein
                     unerträglicher Nachbar, nie ein
                     merkwürdiger Bösewicht werden kann;
                     dagegen wird aber auch alle Regel, man rede was
                     man wolle, das wahre Gefühl von Natur und
                     den wahren Ausdruck derselben zerstören!
                     Sag' du: 'das ist zu hart! Sie schränkt nur
                     ein, beschneidet die geilen Reben' etc. - guter
                     Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist
                     damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz
                     hängt ganz an einem Mädchen, bringt
                     alle Stunden seines Tages bei ihr zu,
                     verschwendet alle seine Kräfte, all sein
                     Vermögen, um ihr jeden Augenblick
                     auszudrücken, daß er sich ganz ihr
                     hingibt. Und da käme ein Philister, ein
                     Mann, der in einem öffentlichen Amte steht,
                     und sagte zu ihm: 'feiner junger Herr! Lieben
                     ist menschlich, nur müßt Ihr
                     menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die
                     einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden
                     widmet Eurem Mädchen. Berechnet Euer
                     Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft
                     übrig bleibt, davon verwehr' ich Euch
                     nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu
                     machen, etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage '
                     etc. - folgt der Mensch, so gibt's einen
                     brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst
                     jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium
                     zu setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende
                     und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner
                     Kunst. O meine Freunde! Warum der Strom des
                     Genies so selten ausbricht, so selten in hohen
                     Fluten hereinbraust und eure staunende Seele
                     erschüttert? - liebe Freunde, da wohnen die
                     gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers,
                     denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und
                     Krautfelder zugrunde gehen würden, die
                     daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der
                     künftig drohenden Gefahr abzuwehren
                     wissen.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     27. Mai 1771 -
                     Seitenanfang
 
                     
                     - Ich bin, wie
                     ich sehe, in Verzückung, Gleichnisse und
                     Deklamation verfallen und habe darüber
                     vergessen, dir auszuerzählen, was mit den
                     Kindern weiter geworden ist. Ich saß, ganz
                     in malerische Empfindung vertieft, die dir mein
                     gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf
                     meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen
                     Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die
                     sich indes nicht gerührt hatten, mit einem
                     Körbchen am Arm und ruft von weitem:
                     "Philipps, du bist recht brav". - Sie
                     grüßte mich, ich dankte ihr, stand
                     auf, trat näher hin und fragte sie, ob sie
                     Mutter von den Kindern wäre? Sie bejahte
                     es, und indem sie dem ältesten einen halben
                     Weck gab, nahm sie das kleine auf und
                     küßte es mit aller mütterlichen
                     Liebe. -"ich habe", sagte sie, "meinem Philipps
                     das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
                     Ältesten in die Stadt gegangen, um
                     weiß Brot zu holen und Zucker und ein
                     irden Breipfännchen". - Ich sah das alles
                     in dem Korbe, dessen Deckel abgefallen war.
                     -"Ich will meinem Hans (das war der Name des
                     Jüngsten) ein Süppchen kochen zum
                     Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir
                     gestern das Pfännchen zerbrochen, als er
                     sich mit Philippsen um die Scharre des Breis
                     zankte". - ich fragte nach dem Ältesten,
                     und sie hatte mir kaum gesagt, daß er sich
                     auf der Wiese mit ein paar Gänsen
                     herumjage, als er gesprungen kam und dem Zweiten
                     eine Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich
                     weiter mit dem Weibe und erfuhr, daß sie
                     des Schulmeisters Tochter sei, und daß ihr
                     Mann eine Reise in die Schweiz gemacht habe, um
                     die Erbschaft eines Vetters zu holen. -"Sie
                     haben ihn drum betriegen <betrügen>
                     wollen", sagte sie,"und ihm auf seine Briefe
                     nicht geantwortet; da ist er selbst
                     hineingegangen. Wenn ihm nur kein Unglück
                     widerfahren ist, ich höre nichts von ihm".
                     - Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu
                     machen, gab jedem der Kinder einen Kreuzer, und
                     auch fürs jüngste gab ich ihr einen,
                     ihm einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie
                     in die Stadt ginge, und so schieden wir von
                     einander.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich sage dir,
                     mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr
                     halten wollen, so lindert all den Tumult der
                     Anblick eines solchen Geschöpfs, das in
                     glücklicher Gelassenheit den engen Kreis
                     seines Daseins hingeht, von einem Tage zum
                     andern sich durchhilft, die Blätter
                     abfallen sieht und nichts dabei denkt, als
                     daß der Winter kommt.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Seit der Zeit
                     bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz
                     an mich gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn
                     ich Kaffee trinke, und teilen das Butterbrot und
                     die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags
                     fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht
                     nach der Betstunde da bin, so hat die Wirtin
                     Ordre, ihn auszuzahlen.
 
                     
                     - Sie sind
                     vertraut, erzählen mir allerhand, und
                     besonders ergetze ich mich an ihren
                     Leidenschaften und simpeln Ausbrüchen des
                     Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich
                     versammeln.
 
                     
                     - Viele Mühe
                     hat mich's gekostet, der Mutter ihre Besorgnis
                     zu nehmen, sie möchten den Herrn
                     inkommodieren.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     30. Mai 1771 -
                     Seitenanfang
 
                     
                     - Was ich dir
                     neulich von der Malerei sagte, gilt gewiß
                     auch von der Dichtkunst; es ist nur, daß
                     man das Vortreffliche erkenne und es
                     auszusprechen wage, und das ist freilich mit
                     wenigem viel gesagt. Ich habe heute eine Szene
                     gehabt, die, rein abgeschrieben, die
                     schönste Idylle von der Welt gäbe;
                     doch was soll Dichtung, Szene und Idylle?
                     Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir
                     teil an einer Naturerscheinung nehmen
                     sollen?
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wenn du auf
                     diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes
                     erwartest, so bist du wieder übel betrogen;
                     es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich zu
                     dieser lebhaften Teilnehmung hingerissen hat.
                     Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht
                     erzählen, und du wirst mich, wie
                     gewöhnlich, denk' ich, übertrieben
                     finden; es ist wieder Wahlheim, und immer
                     Wahlheim, das diese Seltenheiten
                     hervorbringt.
 
                     
                     - Es war eine
                     Gesellschaft draußen unter den Linden,
                     Kaffee zu trinken. Weil sie mir nicht ganz
                     anstand, so blieb ich unter einem Vorwande
                     zurück.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ein Bauerbursch
                     kam aus einem benachbarten Hause und
                     beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich
                     neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu
                     machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn
                     an, fragte nach seinen Umständen, wir waren
                     bald bekannt und, wie mir's gewöhnlich mit
                     dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er
                     erzählte mir, daß er bei einer Witwe
                     in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten
                     werde. Er sprach so vieles von ihr und lobte sie
                     dergestalt, daß ich bald merken konnte, er
                     sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei
                     nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem
                     ersten Mann übel gehalten worden, wolle
                     nicht mehr heiraten, und aus seiner
                     Erzählung leuchtete so merklich hervor, wie
                     schön, wie reizend sie für ihn sei,
                     wie sehr er wünschte, daß sie ihn
                     wählen möchte, um das Andenken der
                     Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen,
                     daß ich Wort für Wort wiederholen
                     müßte, um dir die reine Neigung, die
                     Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu
                     machen. Ja, ich müßte die Gabe des
                     größten Dichters besitzen, um dir
                     zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die
                     Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer
                     seiner Blicke lebendig darstellen zu
                     können. Nein, es sprechen keine Worte die
                     Zartheit aus, die in seinem ganzen Wesen und
                     Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich
                     wieder vorbringen könnte. Besonders
                     rührte mich, wie er fürchtete, ich
                     möchte über sein Verhältnis zu
                     ihr ungleich denken und an ihrer guten
                     Aufführung zweifeln. Wie reizend es war,
                     wenn er von ihrer Gestalt, von ihrem Körper
                     sprach, der ihn ohne jugendliche Reize gewaltsam
                     an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in
                     meiner innersten Seele wiederholen. Ich hab' in
                     meinem Leben die dringende Begierde und das
                     heiße, sehnliche Verlangen nicht in dieser
                     Reinheit gesehen, ja wohl kann ich sagen, in
                     dieser Reinheit nicht gedacht und geträumt.
                     Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß
                     bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit
                     mir die innerste Seele glüht, und daß
                     mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit
                     überall verfolgt, und daß ich, wie
                     selbst davon entzündet, lechze und
                     schmachte.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich will nun
                     suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr,
                     wenn ich's recht bedenke, ich will's vermeiden.
                     Es ist besser, ich sehe sie durch die Augen
                     ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir
                     vor meinen eigenen Augen nicht so, wie sie jetzt
                     vor mir steht, und warum soll ich mir das
                     schöne Bild verderben?
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     16. Junius 1771 -
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                     - Warum ich dir
                     nicht schreibe? - Fragst du das und bist doch
                     auch der Gelehrten einer. Du solltest raten,
                     daß ich mich wohl befinde, und zwar - kurz
                     und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht,
                     die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich
                     weiß nicht.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Dir in der
                     Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen ist,
                     daß ich eins der liebenswürdigsten
                     Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer
                     halten. Ich bin vergnügt und
                     glücklich, und also kein guter
                     Historienschreiber.
 
                     
                     - Einen Engel! -
                     pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht
                     wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu
                     sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie
                     vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn
                     gefangengenommen.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - So viel Einfalt
                     bei so viel Verstand, so viel Güte bei so
                     viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem
                     wahren Leben und der Tätigkeit.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - - Das ist alles
                     garstiges Gewäsch, was ich da von ihr sage,
                     leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres
                     Selbst ausdrücken. Ein andermal - nein,
                     nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir's
                     erzählen. Tu' ich 's jetzt nicht, so
                     geschäh' es niemals. Denn, unter uns, seit
                     ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
                     dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen,
                     mein Pferd satteln zu lassen und hinauszureiten.
                     Und doch schwur ich mir heute früh, nicht
                     hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick'
                     ans Fenster, zu sehen, wie hoch die Sonne noch
                     steht.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - - Ich hab's
                     nicht überwinden können, ich
                     mußte zu ihr hinaus. Da bin ich wieder,
                     Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und
                     dir schreiben. Welch eine Wonne das für
                     meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben,
                     muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu
                     sehen!
 
                     
                     - - Wenn ich so
                     fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am
                     Anfange. Höre denn, ich will mich zwingen,
                     ins Detail zu gehen.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich schrieb dir
                     neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen
                     lernen, und wie er mich gebeten habe, ihn bald
                     in seiner Einsiedelei oder vielmehr seinem
                     kleinen Königreiche zu besuchen. Ich
                     vernachlässigte das, und wäre
                     vielleicht nie hingekommen, hätte mir der
                     Zufall nicht den Schatz entdeckt, der in der
                     stillen Gegend verborgen liegt.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Unsere jungen
                     Leute hatten einen Ball auf dem Lande
                     angestellt, zu dem ich mich denn auch willig
                     finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten,
                     schönen, übrigens unbedeutenden
                     Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht,
                     daß ich eine Kutsche nehmen, mit meiner
                     Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der
                     Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege
                     Charlotten S. mitnehmen sollte. -"Sie werden ein
                     schönes Frauenzimmer kennenlernen", sagte
                     meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten,
                     ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren.
                     -"Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base,
                     "daß Sie sich nicht
                     verlieben!"
 
                     
                     - - "Wieso?"
                     sagte ich. -"Sie ist schon vergeben,"antwortete
                     jene,"an einen sehr braven Mann, der weggereist
                     ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil
                     sein Vater gestorben ist, und sich um eine
                     ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die
                     Nachricht war mir ziemlich
                     gleichgültig.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Die Sonne war
                     noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor
                     dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül,
                     und die Frauenzimmer äußerten ihre
                     Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in
                     weißgrauen, dumpfichten Wölkchen
                     rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich
                     täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher
                     Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen
                     anfing, unsere Lustbarkeit werde einen
                     Stoß leiden.
 
                     
                     - Ich war
                     ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam,
                     bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell
                     Lottchen würde gleich kommen. Ich ging
                     durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und
                     da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen
                     war und in die Tür trat, fiel mir das
                     reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je
                     gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs
                     Kinder von eilf <elf> zu zwei Jahren um
                     ein Mädchen von schöner Gestalt,
                     mittlerer Größe, die ein simples
                     weißes Kleid, mit blaßroten
                     Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt
                     ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen
                     rings herum jedem sein Stück nach
                     Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's
                     jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief
                     so ungekünstelt sein "danke!", indem es mit
                     den kleinen Händchen lange in die Höhe
                     gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war,
                     und nun mit seinem Abendbrote vergnügt
                     entweder wegsprang, oder nach seinem stillern
                     Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore
                     zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
                     darin ihre Lotte wegfahren sollte. -
 
                     
                     -  
 
                     
                     - "Ich bitte um
                     Vergebung", sagte sie, "daß ich Sie
                     hereinbemühe und die Frauenzimmer warten
                     lasse. Über dem Anziehen und allerlei
                     Bestellungen fürs Haus in meiner
                     Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern
                     ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von
                     niemanden Brot geschnitten haben als von
                     mir".
 
                     
                     - Ich machte ihr
                     ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele
                     ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen,
                     und ich hatte eben Zeit, mich von der
                     Überraschung zu erholen, als sie in die
                     Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer
                     zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
                     Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf
                     das jüngste los, das ein Kind von der
                     glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog
                     sich zurück, als eben Lotte zur Türe
                     herauskam und sagte:"Louis, gib dem Herrn Vetter
                     eine Hand". - das tat der Knabe sehr
                     freimütig, und ich konnte mich nicht
                     enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
                     Rotznäschens, herzlich zu
                     küssen.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - "Vetter?"sagte
                     ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben
                     Sie, daß ich des Glücks wert sei, mit
                     Ihnen verwandt zu sein?" -"O", sagte sie mit
                     einem leichtfertigen Lächeln, "unsere
                     Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es
                     wäre mir leid, wenn Sie der schlimmste
                     drunter sein sollten". - Im Gehen gab sie
                     Sophien, der ältesten Schwester nach ihr,
                     einem Mädchen von ungefähr eilf
                     Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu
                     haben und den Papa zu grüßen, wenn er
                     vom Spazierritte nach Hause käme. Den
                     Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester
                     Sophie folgen, als wenn sie's selber wäre,
                     das denn auch einige ausdrücklich
                     versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine
                     aber, von ungefähr sechs Jahren, sagte: "du
                     bist's doch nicht, Lottchen, wir haben dich doch
                     lieber". - Die zwei ältesten Knaben waren
                     hinten auf die Kutsche geklettert, und auf mein
                     Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald
                     mitzufahren, wenn sie versprächen, sich
                     nicht zu necken und sich recht
                     festzuhalten.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wir hatten uns
                     kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich
                     bewillkommt, wechselsweise über den Anzug,
                     vorzüglich über die Hüte ihre
                     Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die
                     man erwartete, gehörig durchgezogen, als
                     Lotte den Kutscher halten und ihre Brüder
                     herabsteigen ließ, die noch einmal ihre
                     Hand zu küssen begehrten, das denn der
                     älteste mit aller Zärtlichkeit, die
                     dem Alter von fünfzehn Jahren eigen sein
                     kann, der andere mit viel Heftigkeit und
                     Leichtsinn tat. Sie ließ die Kleinen noch
                     einmal grüßen, und wir fuhren
                     weiter.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Die Base
                     fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre,
                     das sie ihr neulich geschickt hätte.
                     -"nein", sagte Lotte,"es gefällt mir nicht,
                     Sie können's wiederhaben. Das vorige war
                     auch nicht besser". - Ich erstaunte, als ich
                     fragte, was es für Bücher wären,
                     und sie mir antwortete: - ich fand so viel
                     Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit
                     jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes
                     aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die
                     sich nach und nach vergnügt zu entfalten
                     schienen, weil sie an mir fühlte, daß
                     ich sie verstand.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - "Wie ich
                     jünger war", sagte sie, "liebte ich nichts
                     so sehr als Romane. Weiß Gott, wie wohl
                     mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
                     Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem
                     Glück und Unstern einer Miß Jonny
                     teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht,
                     daß die Art noch einige Reize für
                     mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch
                     komme, so muß es auch recht nach meinem
                     Geschmack sein. Und der Autor ist mir der
                     liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei
                     dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte
                     mir doch so interessant und herzlich wird als
                     mein eigen häuslich Leben, das freilich
                     kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle
                     umsäglicher Glückseligkeit
                     ist".
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich
                     bemühte mich, meine Bewegungen über
                     diese Worte zu verbergen. Das ging freilich
                     nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit
                     im Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield,
                     vom -- reden hörte, kam ich ganz
                     außer mich, sagte ihr alles, was ich
                     mußte, und bemerkte erst nach einiger
                     Zeit, da Lotte das Gespräch an die anderen
                     wendete, daß diese die Zeit über mit
                     offenen Augen, als säßen sie nicht
                     da, dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr
                     als einmal mit einem spöttischen
                     Näschen an, daran mir aber nichts gelegen
                     war.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Das
                     Gespräch fiel aufs Vergnügen am Tanze.
                     -"wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist,"sagte
                     Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich
                     weiß mir nichts übers Tanzen. Und
                     wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem
                     verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle,
                     so ist alles wieder gut".
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wie ich mich
                     unter dem Gespäche in den schwarzen Augen
                     weidete - wie die lebendigen Lippen und die
                     frischen, muntern Wangen meine ganze Seele
                     anzogen - wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer
                     Rede ganz versunken, oft gar die Worte nicht
                     hörte, mit denen sie sich ausdrückte -
                     davon hast du eine Vorstellung, weil du mich
                     kennst. Kurz, ich stieg aus dem Wagen wie ein
                     Träumender, als wir vor dem Lusthause
                     stille hielten, und war so in Träumen rings
                     in der dämmernden Welt verloren, daß
                     ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem
                     erleuchteten Saal herunter
                     entgegenschallte.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Die zwei Herren
                     Audran und ein gewisser N. N. - wer behält
                     alle die Namen -, die der Base und Lottens
                     Tänzer waren, empfingen uns am Schlage,
                     bemächtigten sich ihrer Frauenzimmer, und
                     ich führte das meinige hinauf.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wir schlangen
                     uns in Menuetts um einander herum; ich forderte
                     ein Frauenzimmer nach dem andern auf, und just
                     die unleidlichsten konnten nicht dazu kommen,
                     einem die Hand zu reichen und ein Ende zu
                     machen. Lotte und ihr Tänzer fingen einen
                     Englischen an, und wie wohl mir's war, als sie
                     auch in der Reihe die Figur mit uns anfing,
                     magst du fühlen. Tanzen muß man sie
                     sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem Herzen
                     und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer
                     Körper eine Harmonie, so sorglos, so
                     unbefangen, als wenn das eigentlich alles
                     wäre, als wenn sie sonst nichts
                     dächte, nichts empfände; und in dem
                     Augenblicke gewiß schwindet alles andere
                     vor ihr.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich bat sie um
                     den zweiten Contretanz; sie sagte mit den
                     dritten zu, und mit der liebenswürdigsten
                     Freimütigkeit von der Welt versicherte sie
                     mir, daß sie herzlich gern deutsch tanze.
                     -"Es ist hier so Mode,"fuhr sie fort,"daß
                     jedes Paar, das zusammen gehört, beim
                     Deutschen zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt
                     schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die
                     Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch
                     nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen
                     gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun
                     mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen
                     Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und
                     ich will zu Ihrer Dame gehen". - ich gab ihr die
                     Hand darauf, und wir machten aus, daß ihr
                     Tänzer inzwischen meine Tänzerin
                     unterhalten sollte.
 
                     
                     - Nun ging's an,
                     und wir ergetzten uns eine Weile an
                     manigfaltigen Schlingungen der Arme. Mit welchem
                     Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie
                     sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und
                     wie die Sphären um einander herumrollten,
                     ging's freilich anfangs, weil's die wenigsten
                     können, ein bißchen bunt
                     durcheinander. Wir waren klug und ließen
                     sie austoben, und als die Ungeschicktesten den
                     Plan geräumt hatten, fielen wir ein und
                     hielten mit noch einem Paare, mit Audran und
                     seiner Tänzerin, wacker aus. Nie ist mir's
                     so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein
                     Mensch mehr. Das liebenswürdigste
                     Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr
                     herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings
                     umher verging, und - Wilhelm, um ehrlich zu
                     sein, tat ich aber doch den Schwur, daß
                     ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich
                     Ansprüche hätte, mir nie mit einem
                     andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich
                     drüber zugrunde gehen müßte. Du
                     verstehst mich!
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wir machten
                     einige Touren gehend im Saale, um zu
                     verschnaufen. Dann setzte sie sich, und die
                     Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die
                     nun die einzigen noch übrigen waren, taten
                     vortreffliche Wirkung, nur daß mir mit
                     jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen
                     Nachbarin ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs
                     Herz ging.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Beim dritten
                     englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie
                     wir die Reihe durchtanzten und ich, weiß
                     Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm und Auge
                     hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des
                     offensten, reinsten Vergnügens war, kommen
                     wir an eine Frau, die mit wegen ihrer
                     liebenswürdigen Miene auf einem nicht mehr
                     ganz jungen Gesichte merkwürdig gewesen
                     war. Sie sieht Lotten lächelnd an, hebt
                     einen drohenden Finger auf und nennt den Namen
                     Albert zweimal im Vorbeifliegen mit viel
                     Bedeutung.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - "Wer ist
                     Albert?" sagte ich zu Lotten, "wenn's nicht
                     Vermessenheit ist zu fragen". - Sie war im
                     Begriff zu antworten, als wir uns scheiden
                     mußten, um die große Achte zu
                     machen, und mich dünkte einiges Nachdenken
                     auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor
                     einander vorbeikreuzten. -"Was soll ich's Ihnen
                     leugnen," sagte sie, indem sie mir die Hand zur
                     Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch,
                     dem ich so gut als verlobt bin". - nun war mir
                     das nichts Neues (denn die Mädchen hatten
                     mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so
                     ganz neu, weil ich es noch nicht im
                     Verhältnis auf sie, die mir in so wenig
                     Augenblicken so wert geworden war, gedacht
                     hatte. Genug, ich verwirrte mich, vergaß
                     mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein,
                     daß alles drunter und drüber ging und
                     Lottens ganze Gegenwart und Zerren und Ziehen
                     nötig war, um es schnell wieder in Ordnung
                     zu bringen.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Der Tanz war
                     noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir
                     schon lange am Horizonte leuchten gesehn und die
                     ich immer für Wetterkühlen ausgegeben
                     hatte, viel stärker zu werden anfingen und
                     der Donner die Musik überstimmte. Drei
                     Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre
                     Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein,
                     und die Musik hörte auf. Es ist
                     natürlich, wenn uns ein Unglück oder
                     etwas Schreckliches im Vergnügen
                     überrascht, daß es stärkere
                     Eindrücke auf uns macht als sonst, teils
                     wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft
                     empfinden läßt, teils und noch mehr,
                     weil unsere Sinne einmal der Fühlbarkeit
                     geöffnet sind und also desto schneller
                     einen Eindruck annehmen. Diesen Ursachen
                     muß ich die wunderbaren Grimassen
                     zuschreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer
                     ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in
                     eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster
                     und hielt die Ohren zu. Eine andere kniete vor
                     ihr nieder und verbarg den Kopf in der ersten
                     Schoß. Eine dritte schob sich zwischen
                     beide hinein und umfaßte ihre
                     Schwesterchen mit tausend Tränen. Einige
                     wollten nach Hause; andere, die noch weniger
                     wußten, was sie taten, hatten nicht so
                     viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer
                     jungen Schlucker zu steuern, die sehr
                     beschäftigt zu sein schienen, alle die
                     ängstlichen Gebete, die dem Himmel bestimmt
                     waren, von den Lippen der schönen
                     Bedrängten wegzufangen. Einige unserer
                     Herren hatten sich hinabbegeben, um ein
                     Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die
                     übrige Gesellschaft schlug es nicht aus,
                     als die Wirtin auf den klugen Einfall kam, uns
                     ein Zimmer anzuweisen, das Läden und
                     Vorhänge hätte. Kaum waren wir da
                     angelangt, als Lotte beschäftigt war, einen
                     Kreis von Stühlen zu stellen und, als sich
                     die Gesellschaft auf ihre Bitte gesetzt hatte,
                     den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Ich sah
                     manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand
                     sein Mäulchen spitzte und seine Glieder
                     reckte. -"Wir spielen Zählens!" sagte sie".
                     Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der
                     Rechten zur Linken, und so zählt ihr auch
                     rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
                     und das muß gehen wie ein Lauffeuer, und
                     wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige,
                     und so bis tausend". - nun war das lustig
                     anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im
                     Kreise herum. "Eins", fing der erste an, der
                     Nachbar "zwei", "drei" der folgende, und so
                     fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen,
                     immer geschwinder; da versah's einer: Patsch!
                     Eine Ohrfeige, und über das Gelächter
                     der folgende auch: Patsch! Und immer
                     geschwinder. Ich selbst kriegte zwei
                     Maulschellen und glaubte mit innigem
                     Vergnügen zu bemerken, daß sie
                     stärker seien, als sie den übrigen
                     zuzumessen pflegte. Ein allgemeines
                     Gelächter und Geschwärm endigte das
                     Spiel, ehe noch das Tausend ausgezählt war.
                     Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das
                     Gewitter war vorüber, und ich folgte Lotten
                     in den Saal. Unterwegs sagte sie: "über die
                     Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!"
                     - ich konnte ihr nichts antworten. - "ich war",
                     fuhr sie fort, "eine der Furchtsamsten, und
                     indem ich mich herzhaft stellte, um den andern
                     Mut zu geben, bin ich mutig geworden". - Wir
                     traten ans Fenster. Es donnerte
                     abseitwärts, und der herrliche Regen
                     säuselte auf das Land, und der
                     erquickendste Wohlgeruch stieg in aller
                     Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie
                     stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr
                     Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel
                     und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll,
                     sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
                     "Klopstock!" < bekannter Dichter, der ein
                     Liebesgedicht schrieb, das beide kennen> -
                     Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode,
                     die ihr in Gedanken lag, und versank in dem
                     Strome von Empfindungen, den sie in dieser
                     Losung über mich ausgoß. Ich ertrug's
                     nicht, neigte mich auf ihre Hand und
                     küßte sie unter den wonnevollsten
                     Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder -
                     Edler! Hättest du deine Vergötterung
                     in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich
                     nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder
                     nennen hören!
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     19. Junius 1771 -
                     Seitenanfang
 
                     
                     - Wo ich neulich
                     mit meiner Erzählung geblieben bin,
                     weiß ich nicht mehr; das weiß ich,
                     daß es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu
                     Bette kam, und daß, wenn ich dir
                     hätte vorschwatzen können, statt zu
                     schreiben, ich dich vielleicht bis an den Morgen
                     aufgehalten hätte. Was auf unserer
                     Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich
                     noch nicht erzählt, habe auch heute keinen
                     Tag dazu.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Es war der
                     herrlichste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde
                     Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere
                     Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte
                     mich, ob ich nicht auch von der Partie sein
                     wollte; ihretwegen sollt' ich unbekümmert
                     sein. -"So lange ich diese Augen offen sehe",
                     sagte ich und sah sie fest an,"so lange hat's
                     keine Gefahr". - Und wir haben beide ausgehalten
                     bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise aufmachte
                     und auf ihr Fragen versicherte, daß Vater
                     und Kleine wohl seien und alle noch schliefen.
                     Da verließ ich sie mit der Bitte, sie
                     selbigen Tags noch sehen zu dürfen; sie
                     gestand mir's zu, und ich bin gekommen - und
                     seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne
                     geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiß
                     weder daß Tag noch daß Nacht ist,
                     und die ganze Welt verliert sich um mich
                     her.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Am
                     21. Junius 1771 -
                     Seitenanfang
 
                     
                     - Ich lebe so
                     glückliche Tage, wie sie Gott seinen
                     Heiligen ausspart; und mit mir mag werden was
                     will, so darf ich nicht sagen, daß ich die
                     Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht
                     genossen habe. - du kennst mein Wahlheim; dort
                     bin ich völlig etabliert, von da habe ich
                     nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl'
                     ich mich selbst und alles Glück, das dem
                     Menschen gegeben ist.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Hätt' ich
                     gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner
                     Spaziergänge wählte, daß es so
                     nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das
                     Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche
                     einschließt, auf meinen weiten
                     Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne
                     über den Fluß gesehn!
 
                     
                     - Lieber Wilhelm,
                     ich habe allerlei nachgedacht, über die
                     Begier im Menschen, sich auszubreiten, neue
                     Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und
                     dann wieder über den inneren Trieb, sich
                     der Einschränkung willig zu ergeben, in dem
                     Gleise der Gewohnheit so hinzufahren und sich
                     weder um Rechts noch um Links zu
                     bekümmern.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Es ist
                     wunderbar: wie ich hierher kam und vom
                     Hügel in das schöne Tal schaute, wie
                     es mich rings umher anzog. - dort das
                     Wäldchen! - ach könntest du dich in
                     seine Schatten mischen! - dort die Spitze des
                     Berges! - ach könntest du von da die weite
                     Gegend überschauen! - die in einander
                     geketteten Hügel und vertraulichen
                     Täler! - o könnte ich mich in ihnen
                     verlieren! - - ich eilte hin, und kehrte
                     zurück, und hatte nicht gefunden, was ich
                     hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der
                     Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganzes
                     ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
                     verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen
                     uns, ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit
                     aller Wonne eines einzigen, großen,
                     herrlichen Gefühls ausfüllen zu
                     lassen. - und ach! Wenn wir hinzueilen, wenn das
                     Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und
                     wir stehen in unserer Armut, in unserer
                     Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt
                     nach entschlüpftem Labsale.
 
                     
                     - So sehnt sich
                     der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach
                     seinem Vaterlande und findet in seiner
                     Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem
                     Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu
                     ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten
                     Welt vergebens suchte.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wenn ich des
                     Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach
                     meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir
                     meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich
                     hinsetze, sie abfädne und dazwischen in
                     meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen
                     Küche mir einen Topf wähle, mir Butter
                     aussteche, Schoten ans Feuer stelle, zudecke und
                     mich dazusetze, sie manchmal umzuschütteln:
                     da fühl' ich so lebhaft, wie die
                     übermütigen Freier der Penelope Ochsen
                     und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es
                     ist nichts, das mich so mit einer stillen,
                     wahren Empfindung ausfüllte als die
                     Züge patriarchalischen Lebens, die ich,
                     Gott sei Dank, ohne Affektation in meine
                     Lebensart verweben kann.
 
                     
                     -  
 
                     
                     - Wie wohl ist
                     mir's, daß mein Herz die simple, harmlose
                     Wonne des Menschen fühlen kann, der ein
                     Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er
                     selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein,
                     sondern all die guten Tage, den schönen
                     Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
                     Abende, da er ihn begoß, und da er an dem
                     fortschreitenden Wachstum seine Freude hatte,
                     alle in einem Augenblicke wieder
                     mitgenießt.
 
                     
                     -  
 
                     
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