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Kulturgeschichte - 19. Jahrhundert


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Die Judenbuche

Inhaltsangabe - Hintergrund

1 Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen 

2 Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde

3 Das zweite Jahr dieser unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne...

4 Er war zwölf Jahre alt, als seine Mutter einen Besuch von ihrem....

5 Margreth stand ganz still und ließ die Kinder gewähren.

6 Um diese Zeit wurden die schlummernden Gesetze

7 Um Mittag saß Frau Margreth am Herd und kochte Tee.

8 Die gerichtliche Untersuchung hatte ihren Anfang genommen,

9 Am nächsten Sonntage stand Friedrich sehr früh auf,

10 Es war sieben Uhr abends und alles in vollem Gange;

11 Herr von S. war auf dem Heimwege verstimmt,

12 Die Juden der Umgegend hatten großen Anteil gezeigt.

13 In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau

14 Herr von S. hatte das innigste Mitleiden mit dem armen Schelm

Die Judenbuche -
Historische Vorlage
Stand: Juni 2007, zusammengestellt von Martin Schlu

Inhaltsangabe des Droste'schen Textes - Hintergrund
Geschichte eines Algerier Sklaven
Von A. Freiherrn Haxthausen
 
Der Bauernvogt von Ovenhausen hatte im Herbst 1782 einen Knecht Hermann Winkelhannes, mit dem er, weil es ein tüchtiger frischer Bursche, wohl zufrieden war. Dieser hatte bei dem Schutzjuden Pinnes in Vörden Tuch zum Foerhemd (Camisol) ausgenommen, und als er wohl schon einige Zeit damit umhergegangen und der Jude ihn nun an die Bezahlung mahnt, so läugnet er, verdrießlich, das schon etwas abgetragene, und auch nicht einmal gut ausgefallene Tuch noch theuer bezahlen zu müssen, jenem keck ab, so hoch mit ihm übereingekommen zu seyn, vielmehr habe er die Elle zwei gute Groschen wohlfeiler accordirt, und nach manchem Hin- und Herreden sagt er zulezt: "du verflogte Schinnerteven von Jauden du wust mi man bedreigen, eh ek di den halven Daler in den Rachen smite, well eck mi leiver den kleinen Finger med den Tännen afbiten, un wann de mi noch mal kümmst, so schla ik di de Jacken so vull, dat du de Dage dines Levens an mi gedenken sast". Dem Juden bleibt also nichts anders übrig, als ihn beim H.schen Gericht, der Gutsherrschaft Hermanns, zu verklagen. In der Zwischenzeit bis zum Gerichtstag hat sich dieser mit mehreren besprochen, und ist ihm von den Bauern, da es gegen einen Juden ging, gerathen worden, es darauf ankommen zu lassen; wie denn sein eigener Brodherr sich später ein Gewissen daraus gemacht hat, dass er ihm damals gesagt habe: "Ei wat wust du denn dat bethalen, eck schloge ja leiver den Jauden vörm Kopp, dat hei den Himmel vorn Dudelsack anseihe, et is ja man 'n Jaude!"
 
Aber am Morgen des Gerichtstages beschwor der Jude sein Annotirbuch, und da er außerdem unbescholten war, ward ihm der volle Preis zugesprochen; da wollen Leute, die die Treppe herauf gingen, als Hermann von der Gerichtsstube herunter kam, gehört haben, dass er gesagt: "Töf, ek will di kalt maken!" von welchen Worten ihnen das Verständniß erst nach dem Morde geworden.
 
Es war Abend geworden, als der Förster Schmidts quer übers Feld aufs Dorf zugehend, den Hermann an der Ricke herauf nach dem Heilgen Geist Holz zugehen sieht, und, glaubend jener wolle noch spät Holz stehlen, ihm behutsam auf dem Fuß nachfolgt. Als er ihn aber nur einen Knüppel sich abschneiden sieht, und die Zackäste davon abschlagen, so sagt er halb ärgerlich bei sich: "I wenn du wieder nix wult häddest, ase dat, so häddest du mi auk nich bruken dahenup to jagen"; und die Flinte, die er auf den schlimmsten Fall zu schneller Bereitschaft unter den Arm genommen, wieder auf die Schulter hockend, geht er langsam die Schlucht herunter nach dem Dorf zu. Nahe davor zwischen den Gärten begegnet ihm der Jude Pinnes und bittet für seine Pfeife um etwas Feuer, welches man auch keinem Juden abschlagen darf, und weil der Zunder nicht gleich fangen will, so reden sie vom Handel, und ob der Jud seine Fuchsfelle haben wolle, der aber: er könne jetzt nicht wieder umkehren und sie besehen, er müsse nach Hause; "ja, sagte der Förster ihm das Feuer auf die Pfeife legend, "wenn du noch na Huse wust, so mak dat du vor der Dunkelheit dörch 't Holt kümmst, de Nacht meint et nich gut med den Minschen".
 
Zwei Tage drauf des Nachmittags kommt die Frau des Schutzjuden Pinnes den Höxterschen Weg herunter ins Dorf, schreiend und heulend: ihr Mann läge oben erschlagen im Heilgen Geist Holze; und während die Leute zusammenstehn und es besprechen und einige den Weg heraufgehen, dem Holze zu, giebt sie bei dem Gerichte an, und erzählt unter Schluchzen, als vorgestern ihr Mann nicht gekommen, gestern nicht, und auch heute Morgen nicht, habe sie sich aufgemacht, um hier im Dorf zu fragen welchen Weg er genommen, und als sie durchs Holz gekommen, sei auf einem Fleck viel Blut gelegen, und eine Spur davon habe ins nahe Gebüsch gewiesen, da sei sie neugierig gefolgt, meinend ein todwundes Wild sei da vielleicht hineingekrochen, da sei es ein Mensch gewesen, und ihr Mann, und todt!
 
Man bringt ihn auf einer Tragbahre ins Dorf. Er hatte siebzehn sichtbare Schläge mit einem Knüppel erhalten, aber keiner von sechsen, auf den Hirnschädel gefallenen, hatte diesen zersprengt, ohngeachtet sie so vollwichtig gewesen, dass die Haut jedesmal abgequetscht war. Nur einer ins Genick und ein Paar in die Rippen waren ihm tödtlich geworden. Die Haut in beiden Händen war abgeschält; (er hatte, wie sich später erwieß, mehrmals krampfhaft den zackichten Prügel ergriffen, der Mörder ihm aber denselben mit aller Gewalt durch die Hände gerissen dass die Haut daran geblieben).
 
Der Förster Schmidts war mit unter denen gewesen, die hinauf gegangen, und fand kaum 100 Schritt vor der Leiche auf dem Wege nach Ovenhausen rechts am Graben den blutigen Knüppel der seine Gedanken auf Hermann leitete; dann kam beim Gericht die Erinnerung an den Prozess, und bald die Aussage jener die gehört, dass Hermann unten an der Treppe gesagt: ek will di kalt maken.
 
Da gab das Gericht Befehl ihn zu arretiren, und weil man hörte, er sei seit ein paar Tagen nicht mehr beim Voigt in Ovenhausen, sondern bei seinem Vater in Bellersen, so setzte sich der Drost Freiherr H..n selbst mit einem Reitknechte zu Pferde, und ritt von der einen Seite ins Dorf, während von der andern Seite die Gerichtsdiener auf das Haus des alten Winkelhannes zukamen. Der aber erzählte, als man niemanden fand, sein Sohn sei schon seit voriger Nacht fort, er wisse nicht wohin. Das war aber unwahr, denn Hermann erzählte später selbst: er habe die Gerichtsdiener aufs Haus zukommen sehen, da sei er durchs Fenster in den Garten gesprungen und habe sich in die Vicebohnen versteckt, und habe das Suchen alles gehört, wie es dann still geworden, dann ein Paar am Gartenzaun sich begegnet, und der eine gesagt: da hawwet se en!" worauf der andere: ach wat willt se'n häwwen, de is längest öwer alle Berge! wo sull he denn wal hen lopen sin? Ach wat weit eck, na Ueßen, na Prüßen, na Duderstat hen!
 
Der Jude lag indeß auf der Todtenbahre und seine Wunden öffneten sich nicht mehr, um bei Vorführung des Mörders zu bluten. Da kamen die Verwandten und Glaubensgenossen, ihn zum ehrlichen Begräbniß abzuholen, und während der Rabbiner ihn in den Sarg legen und auf den Wagen laden lässt, stehen der Bruder und ein paar andre Juden beim Drosten H..n und bitten ihn nach einiger Einleitung, "se hatten 'ne grause Bitte an er Gnoden." - Nun und worin besteht die? wendete der Drost ein. "Er Gnoden müssen's uns aber nich vor übel nehmen, da is der Baum wo unser Bruder bei erschlagen, da wöllten mer se bitten, ob se uns erlauben wollten in den Baum unsre Zeichen 'nein zu schneiden, wir wollens gerne bezohlen, fordern er Gnoden nur was se da vor haben wollen". - "O das thut in Gottesnahmen so viel ihr nur wolltt!' - "Nu mer wollen allen Schaden ersetzen, verkaufen se uns den Baum". - "Ach was, schreibt daran was ihr Lust habt, das thut dem Baum weiter nichts. Aber was wollt ihr denn drein schneiden, dürft ihr das nicht sagen?" frägt der Drost zurück. "Ach wenn er Gnoden es nich vor übel nehmen wollten, da ist unser Rabbiner der soll da unsere Hebraischen Zeichen nein schneiden, dass der Mörder, den unser Gott finden werd, keines rechten Daudes sterben soll."
 
Nach fast 6 Jahren, im Frühjahr 1788, wird dem Fürstbischof von Paderborn, während gerade in der Zeit des Landtags Mehrere von der Ritterschaft, worunter auch der Drost H..n, bei ihm an der Mittagstafel sitzen, ein Brief gebracht, welchen er, nachdem er ihn gelesen, dem Drosten giebt, "das betreffe jemand aus einem seiner Dörfer und wie sich das verhalte, ob man etwas dafür thun solle?" Der Drost, nach aufmerksamer Lesung, giebt ihn dem Fürsten zurück: "Er überlasse das der Einsicht ihrer Fürstlichen Gnaden, der Mensch sei übrigens im starksten Verdacht eines begangenen Mordes, und man würde ihn dort nur befreien, um ihn hier den Händen der Gerechtigkeit zu überliefern". -
 
Der Brief aber lautet wörtlich so:
 
Ihro Hochfürstlich Gnaden durchleichtigster Printz.
Mein allergnadigster Herr herr etc.
 
Ich armer bitte Unterthänigst. zu vergeben dass ich mein Schreiben an ihro durchleichtigsten Printzen Ergehen lasse. in deme ich nach Gott Einzig und allein meine Zuflucht zu ihro Gnaden meinen allergnädigsten Landesherren suche, hoffe meine Bitte erhöret zu werden.
 
Ich Johannes Winkelhannes von den Paderpormschen auß Pelersen deß Fürstenthum von Neuhaus gebürtig, von der Dioces Churfürstenthum Cöllen. Mein Vatter hermanns und meine Muetter Maria Elisabetta Abgentz, dessen Ehlich Erzeigte Sohn stunde in spanischen Dienste untter dem löbl. Regiment Provante geriethe Sclavische Gefangenschaft worinnen ich schon über zwei Jahre lang in diesem so erbermlichen Leben bin, Wenn man sollte sprechen das Ellend der Christen unde wie sie von diessen Barbaren dractieret werden, ist mir unmöglich zu schreiben, und die teglichen Nahrung bei so schwerer Arbeit miserable Kleidung sollte ein steinernes Herze zum Mitleiden bewegen. Doch meiner seits Gott sei Dank habe ich einen guetten Patron bekhomen, welcher der erste Minister nach dem Dei ist, und wird Casnätzi genannt, wo ich an Unterhalt undt Kleidung keinen Mangel leidte doch in bedenkung ein Sklave den Christenthum Entzogen, und meiner Schuldigkeit als ein Christ nit nachkommen kann.
 
Keinen Trost. Undt zuflucht bei keinen Menschen mich dieses Jemerlichen Standes zu entziehen, so setze ich nun mein Vertrauen und Zuflucht zu ihro hochfürstliche gnaden Kniefehlich mit bitteren Thränen bittend durch das bittere Leidten und Sterben Jesu Christi sich meiner zu erbarmen, mich dieses Ellenden Sclaven-Stande Loß zu machen und mir wiederum in mein liebes Vatterlandt zu verhelfen es ist in Wahrheit es ist Villes Gelt nachendt bei Dreihundert Ducaten, doch wird solches Gott der Allmechtige solches an ihrer hoch fürstliche Gnaden reichlich vergelten bittend anbey dieses mein Schreiben an meine libe Eltern und befreunde wissen zu thun, so sie annoch bei Leben seyen mochten laße sie ebenfalls freundlich grüssen und bitten, sie mochten ebenfalls bei ihro hochfürstlichen Landesherren vor mich bitten und in ihren Gebett bei Gott vor meine Guet Detter und Erlöser dieses Elendes ingedenk sein Schliesse mit bkteren Thränen und verharre an ihro Hchfürstliche Gnaden
 
Ein aller unterthänigster Unterthan
und Diener
Johannes Winkelhannes Sclav de Minister
Casnacz; in Algier
 
So ein Schreiben an mich überschickt werden sollte, ist solches an Monsieur Walther Consul de Schvede zu attressiren und muss solches bis nach Marseilo frangierent werden
 
Signt Algier in Barbaria
den 8ten November an 1787
 
Im April 1807 wird dem Drosten H. in dem Augenblick als er auf der Haustreppe steht, um in den Wagen zu steigen, der ihn nach Paderborn bringen soll, von dem Felddiener und Gerichtsboten Malchus die Anzeige gemacht: in Bellersen sei vor einigen Tagen der Hermann Winkelhannes, der seid 25 Jahren verschollen, und damals des Mordes beschuldigt, eingetroffen, ob man da vielleicht von Gerichtwegen ihn arretiren oder sonst verfahren solle. Worauf der Drost in den Gedanken der Abreise durch plötzliche Vewunderung über die seltsame Nachricht gestört und die Schwere der Worte nicht gleich erwägend, zum Gerichtsdiener gesagt: allerdings, er müsse gleich arretirt werden; aber eingestiegen und kaum vom Hof gefahren lässt er halten, und ruft den Gerichtsdiener an den Kuschenschlag, ihm befehlend er solle noch mit der ganzen Sache ruhen, und schweigen, er wolle erst in Paderborn anfragen, die Sache sei so lange her, die Zeugen meist todt oder fort die ganze Untersuchung also schwer und unklar auch schon längst Gras darüber gewachsen.
 
Dort angekommen geht er nach dem noch von Preußischer Seite angestellten Regierungspräsidenten von Coninx und frägt ihn um Rath, der aber sagt gleich, er möge den Hermann W. ganz ungekränkt lassen, 24jährige Sklaverei wäre nach dem Gesetze dem Tode gleich gesetzt. Und so fährt er wieder nach Haus und lässt dem Hermann W. sagen, dass er ganz frei und unbeschwert leben dürfe, und er möge bei Gelegenheit einmal zu ihm kommen.
 
Da meldet einen Nachmittag, als die Familie beim Kaffee sitzt, der Bediente der Algierer sei da und wolle gern den gnädigen Herrn sprechen Auf den Befehl, er solle ihn nur herein weisen, tritt ein kleiner krüpplicht bucklichter Kerl herein, ganz kümmerlich aussehend, der auf die Frage, ob er der Hermann Winkehanns sey und wie es ihm ergangen, dieß erst nach mehrmaliger Wiederholung versteht, und dann in einer Sprache antwortet deren Zusammenhang wieder niemand im Zimmer versteht, und die ein Gemisch scheint von wenig Deutsch und Holländisch, mehr Französisch und Italiänisch und Türkisch, wie sie die Sclaven in der Barbarei unter einander sprechen. Erst nach mehreren Monaten, als er unter seinen Verwandten wieder gebrochen Deutsch gelernt und mehrmals und oft wieder gekommen, hat er sich dem Drosten ganz verständlich machen können, der ihm nach und nach seine Geschichte abgefragt.
 
Da hat ihn einsmals auch der Drost gefragt: "nu seg mal Hermen, du brukst ja jetz doch nix mer to förchten, wi is dat kumen med den Jauden dat du den vor de Blesse schlahen hest?" "Ach dat well ek er Gnaden seggen, ek wull' en nich daut schlahen, sunnern men düet dörchprügeln, wi ek en averst sau an den Kragen fatte da ritt he sik loß, un gav mi einen med sinen dören Stock, dei mi höllisch wei deihe, da schlog ek en in der Bosheit med minen Knüppel glik övern Kopp dat he flugs tosammen stört asse 'n Taskenmest. Da dacht ek: nu is et doch verbi, nu sust 'n auck ganz daut schlahen."
 
Wie er ihn nun todt vor sich liegen gesehen, da wäre die Angst über ihn gekommen, und wäre nicht wieder zu seinem Herrn nach Ovenhausen gegangen sondern nach Hause, und da sein Vater darüber verwundert, habe er ihm gesagt er hätte Streit mit seinem Brodherrn bekommen und sei aus dem Dienst gegangen. Da sei denn aber auf einmal die Nachricht von dem Morde gekommen, und sein Vater um jenen Prozess wissend habe ihn scharf angesehen: "Hermen Hermen med di is et nich richtig, du hest wat up de Seele, give Gott dat et nich Unglück un Schanne is." Nun hätte er am Mittag in der Hausthür gestanden, als er die Gerichtsdiener von der einen Seite und den gnädigen Herrn von der andern im Dorf herauf kommen gesehen. Da hätte er wohl gemerkt dass es auf ihn abgesehen, und sei in die Stube gesprungen und hätte seinem Vater gesagt; er solle ihn nicht verrathen; und da der Gerichtsdiener schon vor dem Hause, sei er zum Fenster hinaus in den Garten in die Vicebohnen gesprungen. Da hätte er denn hören können wie sie nach ihm gefragt, und sei in der größten Angst gewesen weil das Fenster noch offen, und wenn sie da recht zugesehen so würden sie die Fußtapfen im umgegrabenen Lande haben sehen können, wo er heraus gesprungen, bis in die Vicebohnen, einmahl habe der gnädige Herr zum Fenster heraus gesehen, da habe er in höchster Angst das Gelübde gethan, baarfuß nach Werl zu wallfahrten wenn ihn niemand sähe. Da hatte ihn die Mutter Gottes erhört und ihn niemand entdeckt, als es aber Nacht geworden da sei er leise über den Zaun gestiegen und queer durch den Garten zum Dorf hinaus. Auf der Höhe nach dem kleinen Kiel zu habe er sich noch einmal umgesehen, da hatte er die Lichter im Dorfe gesehen und die Hunde hatten gebellt, damahls habe er gemeint er kriegt es nun wohl sein Lebtage nicht wieder zu sehen. Und er hätte Schuh und Strümpfe ausgezogen, und wäre, den Rosenkranz betend, über die Hölzer ins Lippische hinein gegangen, und den zweiten Abend sei er in Werl angelangt. Ganz früh am andern Morgen habe er gebeichtet und communicirt, und er habe noch einen halben Gulden gehabt, den habe er der Mutter Gottes als Opferpfennig gegeben, da sei ihm ganz frisch zu Sinne geworden, und wie er aus der Kirche getreten, da sei die Sonne eben durch die Bäume aufgegangen, die auf dem Kirchhof stehen, und die Schatten davon waren alle nach Holland gelaufen, da hatte er gedacht: ich muss auch wohl dahin, und wäre munter zugeschritten.
 
In Holland half er sich bis zum Frühjahr mit Taglohn durch, dann ließ er sich zum Matrosen anwerben, worauf er nach einigen Reisen in Englische Häfen, nach Genua kam und sich dort während einer Ruhe von mehreren Monaten, durch höheren Lohn gereizt, auf einen Genuesischen Kauffahrer dingen ließ, der in die Levante schiffte, obgleich seine holländischen Cammeraden eifrig abriethen, ihm die Gefahr, von Piraten gefasst zu werden, vorstellend. Es ging auch glücklich das erstemal, da ließ er seinen Contract noch einmal verlängern; als er aber das drittemal dieselbe Reise machte, ward das Schiff im Sicilischen Meer von Seeräubern genommen, und in den Hafen von Algier gebracht.
 
Auf dem Sklavenmarkt kaufte ihn der Vezir des Dei, ein Renegat mit Namen Casnatzi und da er ein wackerer tüchtiger Bursch war, hatte er es gut bei ihm, ja er machte ihn, da er etwas schreiben und ein wenig Italienisch und Französisch konnte, zu seinem Haushofmeister. Aus dieser Zeit rührt jener Brief her, den er an den Fürstbischof geschrieben Aber die Herrlichkeit dauerte nicht lang; der Vezir fiel plötzlich in Ungnade und ward strangulirt, sein Vermögen verfiel dem Dei, und seine Sklaven wurden öffentliche Sklaven. Da fing sein eigentliches Elend an, und dauerte 17 Jahre hindurch bis zu seiner Befreiung. Die Sklaven mussten große Steine auf Schleifen aus dem Lande nach dem Molo ziehen, oft 20 vor einen Stein gekuppelt, in schärfster Hitze durch den glühenden Sand, und dazu nichts als 1 Pfund Brod, und ein kleines Maaß mit Oehl und Weinessig Dabei hätten die Aufseher auch nicht gespaßt und wie einer niedergesunken aus Mattigkeit, hätten sie darauf geschlagen bis er wieder munter. Da sei einmal eines Tags, als einer der Aufseher grad frisch darauf geschlagen, ein Derwisch in der Ferne vorüber gegangen; der wäre, es ansehend, still gestanden, und ihn zu sich winkend, hätten sie an den Geberden gesehen, dass er ihm ins Herz geredet, oft mit der Hand nach dem Himmel zeigend, da hätte der Aufseher die Erde geküsst und dem Derwisch die Hand, und als er wieder zu ihnen gekommen, sei er ganz veändert gewesen, und 2 Wochen ganz mild. Alle Jahr ein paarmal wäre der Dei auf einem Spazierritt bei ihnen vorbei gekommen, und wie sie ihn auf ihren Knieen um Gnade gebeten, habe er eine Hand voll Zechinen ausgeworfen welche sie gesammelt und dem Schwedischen Consul gebracht hätten. Der hätte sie dann insgesammt an gewissen Tagen losgekauft und ihnen einmal satt und gut zu essen gegeben.
 
Ein Paar Jahre hielt der kräftige Körper Hermanns dies Leben aus, als er aber einstmals einen Sack mit vielen Brodten tragend darunter niedergestürzt ist, dergestalt dass er mehrere Knochen im Rücken gebrochen, haben sie ihn in ein Loch geworfen da er dann so lang gelegen bis er heil gewesen, und weil er nicht verbunden, so ist er ganz krumm in einander gewachsen. Doch hätte sie das Volk mit einigem Mitleiden betrachtet, ja als die Revolution gegen die Juden ausgebrochen und diese mit dem sie begünstigenden Dei alle ermordet wurden, hätten sie gedacht die Reihe würde nun an sie kommen und viele von ihnen hätten es wohl gewünscht, aber sie wären unberührt unter der wogenden Menge umher gegangen. Oft hatte ihn, als er noch bei dem Vezir gewesen, dieser bereden wollen auch Renegat zu werden und ihm dann groß Glück und Ehre versprochen, er hat aber nicht gewollt.
 
Endlich als 1806 Hieronymus Bonaparte den Dei gezwungen die Christen-Sklaven frei zu geben, ist auch Hermann befreit worden, und an der italienischen Küste ausgesetzt, mit 8 Kronen beschenkt, ist er nach seiner Heimath gewandert.
 
Das war der Inhalt seiner Erzählung, die der Drost so nach und nach ihm abfrug. Zu Hause ging es ihm aber traurig, sein Bruder sah ihn nur ungern, arbeiten konnte er nur wenig, dabei klagte er über unausstehliche Kälte.
 
Während der Curzeit ging er oft nach dem Driburger Brunnen, bettelnd und wer sie hören wollte, seine Geschichte erzählend. Im Spätherbst kam er noch einmal zu dem Drost H..n, und auf dessen Frage, da er nach erhaltenem Almosen noch stehen bleibt, "ob er noch was besonders wolle?" klagt er erst nochmals seine Noth und bittet zuletzt flehentlich ob ihn der Drost nicht könne ganz zu sich nehmen, er wolle ja gern all die kleine Arbeit eines Hausknechts thun; das schlug dieser ihm aber rund ab, aus dem unangenehmen Gefühl einen vorsetzlichen Mörder unter dem Dache zu haben.
 
Als zwei Tage darauf der Domherr Carl H..n früh auf die Jagd ging, kommt er über die Stoppeln an dem Pflüger Kerkhoff aus Bellersen vorbei, der ihm erzahlt, sie hätten vor einer Stunde den Algierer im Kiel an einem Baum hangen gefunden. Da hat der Drost die Gemeindevorsteher zu sich kommen lassen und sie gebeten, dem Menschen, über dem ein ungeheueres Unglück am Himmel gestanden, nun auch ein ehrliches Begräbniß zu geben, und ihn nicht wie sonst Selbstmördern geschieht in der Dachtraufe oder hinter der Kirchhofs-Mauer einzuscharren, welches sie auch versprochen und gehalten haben. Erst nach 8 Tagen führten die einzelnen Fäden über seine letzte Geschichte und seinen Tod zu einem Knoten, der wie sein Schicksal selbst, das ihn überall an den unsichtbaren Fäden hielt, in seinem Tod gelöst ward. Spät Abends an dem Tage als er von dem Droste jene abschlägige Antwort erhalten, pocht er in Holzhausen, 2 Stunden weiter, heftig an die Thüre des ersten Hauses am Wege rechts, und als ihm aufgemacht und er gefragt wird, was er wolle, stürzt er leichenblass und in furchtbarer Angst ins Haus, und bittet um Gottes und aller Heiligen Willen, ihn die Nacht bei sich zu behalten; und auf die Frage, was ihm denn in aller Welt wiederfahren, erzählt er, wie er übers Holz gekommen habe ihn eine große lange Frau eingeholt und ihn gezwungen ein schweres Bund Dörner zu tragen und ihn angetrieben wenn er still gestanden, da hatten sich die Dörner ihm alle ins Fleisch gedrückt, und er hatte an zu laufen gefangen, und sei so keuchend in großer Angst vor's Dorf gekommen, da sei die Frau fort gewesen, und sie möchten ihn nur die Nacht behalten, er wolle den andern Tag wieder nach Hause.
 
Früh fortgegangen, ist er gegen Mittag auf die Glaserhütte zur Emde gekommen, wo er oft Almosen erhalten, und hat um ein Glas Branntewein gebeten, und als er getrunken, um noch eins, da ist ihm auch das dritte gegeben worden, worauf er gesagt, nun wolle er nach Hause. Wie er aber an den Kiel gekommen, nicht weit von der Stelle, wo er vor 24 Jahren die Schuhe zur Wallfahrt ausgezogen, da hat er eine Leine von einem nahen Pflug genommen, und sich damit an einen Baum gehenkt und zwar so niedrig, dass er mit den Füßen das Herbstlaub unter sich weggescharret hat.
 
Als ihm einst der Drost die Geschichte mit dem Baum und den Zeichen die die Juden darein geschnitten erzählt, und wie sie bedeuteten, dass er keines rechten Todes sterben solle, hat er geantwortet: "O dat sull ek doch nich denken, ek hawwe doch so lange davör Buße daen un hawwe vaste an minen Gloven halen, asse se meck överreen wullen, en abtoschwören".
 
So hat der Mensch 17 Jahre ungebeugt und ohne Verzweifelung die härteste Sklaverei des Leibes und Geistes ertragen, aber die Freiheit und volle Straflosigkeit hat er nicht ertragen dürfen. Er musste sein Schicksal erfüllen, und weil Blut für Blut, Leben für Leben eingesetzt ist, ihn aber menschliches Gesetz nicht mehr erreichte, hat er, nachdem er lange Jahre fern umher geschweift, wieder durch des Geschicks geheimnißvolle Gewalt zu dem Kreis, Ort und Boden des Verbrechens zurückgebannt, dort sich selbst Gerechtigkeit geübt.
 
Zwei Jahre nach seinem Tode ist jener Baum, worein die Juden ihre dunklen Zeichen geschnitten umgehauen worden. Die Rinde aber hatte diese in den langen Jahren herausgewachsen, dass man ihre Form und Gestaltung nicht mehr erkennen konnte.
 
Wünschelruthe. Ein Zeitblatt.
Nr. 11-15, 5.-19.2.1818, S. 41 f., 46 f., 50 f., 55, 59 f.
(Aus: Oldenbourg.Interpretationen mit Unterrichtshilfen. Herausgegeben von Bernhard Sowinski und Reinhard Meurer, Band 33. Annette von Droste-Hülshoff. Die Judenbuche, interpretiert von Heinz Rölleke, München 1993)
 
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