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Kulturgeschichte - 20. Jahrhundert - Nationalsozialismus


Nationalsozialismus

Das Mädchen Anne Frank
Margot
Die Geschichte der Familie Frank
Bergen Belsen
Annes Tagebuch
Miep Gies
Kitty
Verhaftung
Deportation
Die Zeit bis zum Untertauchen
Das Hinterhaus
Die Ankunft in Auschwitz
Der Bericht Fritz Franks
Hanneli
Krankheit und Ende

Literatur

Literaturempfehlungen

 

Anne Frank
Das Hinterhaus
erstellt von Frederike v. Wehrs 15.Januar 2001

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Was war das für ein Versteck, in das Anne nun mit dem mehr oder weniger bewußten Gedanken einzog, es möglicherweise für lange, für sehr lange zeit nicht mehr verlassen zu dürfen? Wenigsten konnte sie mit ihrer Familie zusammen bleiben, ein großes Glück, den in der Regel wurden Kinder und Eltern beim Untertauchen von einander getrennt. Und das Versteck war kein Verschlag auf dem Dachboden oder unter der Erde, sondern immerhin ein richtiges Haus, ein für Anne halbwegs vertrauter Ort sogar. Das Versteck lag im selben Gebäudekomplex an der Prinsengracht 263, in dem sich seit Dezember 1940 die Firma ihres Vaters befand.  
 
 
Es war ein schmales Gebäude aus rotem Backstein, ein Haus, wie es viele in der Gegend gab.
 
An der zur Gracht gelegenen Front befanden sich drei Türen. Eine führte über eine steile Treppe zum Dachboden, eine direkt in die Lagerräume, und die offizielle Haustüre schließlich über ein paar Stufen zu einem Absatz, von dem zwei Türen ausgingen. Durch die eine Tür kam man in das große, helle Büro, in dem Miep, Bep und Herr Kleiman arbeiteten. Die zweite Tür führte in einen Gang mit einer Tür zu dem kleinen, ziemlich muffigen, dunklen Direktorenzimmer. Dort saßen früher Herr Kugler und Herr van Daan, nun nur noch letzterer. Am Ende des Ganges waren wieder ein paar Stufen, dann erreichte man das Büro von Otto Frank, von Anne als Prunkstück bezeichnet. Neben diesem Büro war eine große Küche. Vom unteren Flur führte eine einfache Holztreppe nach oben zu einem kleinen Vorplatz. Dort gab es zwei Türen: durch die linke gelangte man zum Vorderhaus mit den Lagerräumen und der Treppe zum Dachboden, durch die rechte zum Hinterhaus. Hier erst begann das eigentliche Versteck. Einige Zeit später wurde diese Tür durch einen drehbaren Aktenschrank getarnt.
 
Heute ist das Haus an der Prinsengracht 263 ein Museum. Im Vorderhaus befinden sich die Büros der Anne&endash;Frank-Stiftung und Ausstellungsräume. Das „Hinterhaus" dagegen ist restauriert und noch weitgehend im selben Zustand wie zu der Zeit, als Anne es bewohnte; es wird heute von einem ununterbrochenen Besucherstrom besichtigt.
 
Ich stelle mir vor, ich sitze auf der Couch in jenem Zimmer, das Anne erst mit Margot, später mit Fritz Pfeffer teilte. Es ist ein kleines Zimmer, auch für eine Person wäre es schon klein zu nennen. Durch das Fenster fällt Tageslicht... Aber halt! Damals waren das Fenster ja verhängt. Sie hatten gleich am ersten Tag Vorhänge genäht, die, wie Anne sie beschrieb, diesen Namen eigentlich nicht verdienten. An der Wand über der Bettcouch kleben auch jetzt noch Bilder von Filmstars. Die Couch auf der Anne schlief ist nicht sehr lang. Anfangs mag sie wohl gereicht haben, später wurde sie mit Hilfe von Stühlen verlängert. Eben jener Stühle, gegen die Herr Pfeffer morgens stieß, wenn er Gymnastik machte. Sie schoben sich unter Annes schläfrigem Kopf hin und her, wenn er nach seinen Gelenkigkeitsübungen im Zimmer herumging und sich anzog. Da steht auch noch das Tischchen, um das Anne mit ihm kämpfen mußte. Ein winziges Zimmer, viel zu klein als Wohn- und Schlafraum für zwei in jeder Hinsicht so unterschiedliche Menschen wie Anne Frank und Fritz Pfeffer.
 
Wie konnte das überhaupt gutgehen? Acht nach Alter, Herkunft und Charakter so verschiedene Menschen auf ungefähr 50 Quadratmetern zusammengesperrt, über zwei Jahre lang! Wie haben sie den lebensnotwendigen Alltag zu entwickeln vermocht, die Normalität, die man gerade in Extremsituationen so dringend braucht?
 
Wahrscheinlich sind Menschen immer und überall in der Lage, Alltag herzustellen. Alltag ist das Selbstverständliche, die Routinehandlungen, die mehr hinterfragt werden müssen, für die keine besonderen psychischen Prozesse mehr nötig sind. Je größer die Anspannung oder Bedrohung, in der Menschen stehen, um so wichtiger ist es für sie , im Alltäglichen Rückhalt und Entlassung zu finden.
 
Bei den Untergetauchten ging der Prozeß der Normalität enorm schnell, obwohl die Umstellung, die ihnen abverlangt wurde, sehr einschneidend war - man bedenkt nur den jähen Wechsel von der großen Wohnung und dem Sichfreibewegenkönnen auf die Enge und das Eingesperrtsein. Aber das sie vergleichsweise wenig neue eindrücke zu bewältigen hatten, gelang es ihnen relativ schnell, Normalität zu entwickeln. Am schwierigsten zu normalisieren war wohl der Faktor Zeit, denn der gewohnte „Zeitvertreib„ war nicht mehr möglich. Die Untergetauchten mußten neue Tagesabläufe, andere Beschäftigungen und andere Interessen finden. Das war schwer und gelang nicht immer jedem gleichermaßen. Anne Frank schreibt schon am 12. September 1943 in ihr Tagebuch: Unsere Gedanken haben genauso wenig Abwechslung wie wir selbst. Wie bei einem Karussell dreht sich alles von den Juden zum Essen, vom Essen zur Politik. Doch man gewöhnt sich an alles. Kampf gegen die Langeweile und Streit werden bestimmend für das Zusammenleben.
 
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