20. Jahrhundert - Rilke


Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

1875 Prag
1896 München
1897 Berlin
1898 Worpswede
1902 Paris
1904 Schweden
1907 Italien
1914 Krieg
1919 Schweiz
Werke:
 
Literatur

 


Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Rilke in Paris (1902 - 1906)
zusammengestellt von Martin Schlu, ©2006

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Brief an Clara über Rodin - Der Panther - Der Knabe - Herbsttag - Das Karussell
1903 - 1904 - 1905 - 1906 - Blaue Hortensien
 
 
1902 - Worpswede
Rilke, Clara Rilke und die Tochter Ruth (1901 - 1972) leben nun in Westerwede. Clara schreibt an den Pariser Bildhauer Auguste Rodin (1840-1917), der seit der Pariser Weltausstellung 1900 eine Berühtmheit ist, und bittet ihn um eine Begutachtung ihrer Arbeiten, allerdings erfolgt keine Reaktion.
 
Als Rilke Ende August eine Auftragsarbeit bekommt, über diesen Auguste Rodin eine Monographie zu schreiben fährt er daher für einige Monate nach Paris um mit Rodin Gespräche zu führen und findet auch schnell eine kleine Wohnung. Pariser Dachwohnungen sind allerdings klein, schlecht zu heizen, schon damals recht teuer und das Schönste ist oft der Ausblick. Darum verbringt er Rilke die meiste Zeit in der Wohnung im Bett um Heizkosten zu sparen und hält sich viel bei Rodin auf um ihn zu befragen - dort wird er oft zum Essen eingeladen und spart noch einmal Geld.
 
Blick aus einer Pariser Dachwohnung auf Montmartre und Sacre Coer. Foto: Martin Schlu© 2006 - Seitenanfang
 
An Clara Rilke
..Gestern, Montag nachmittag 3 Uhr, war ich zuerst bei Rodin. Atelier Rue de L'Université 182. Bin auf der Seine hingefahren. Er hatte Modell. Ein Mädchen, hatte ein kleines Gipsding in der Hand, an dem er herumkratzte. Er ließ die Arbeit im Stich, bot mir einen Sessel an, und wir sprachen. Er war gut und mild. Und mir war, als kennte ich ihn immer schon. Als sähe ich ihn nur wieder; ich fand ihn kleiner und doch mächtiger, gütiger und erhabener. Diese Stirne, die Art, wie sie zur Nase steht, die aus ihr herausfährt wie ein Schiff aus dem Hafen ... das ist sehr merkwürdig. Stil von Stein ist in dieser Stirn und dieser Nase. Und der Mund hat eine Sprache, deren Klang gut, nahe und voll Jugend ist. So ist auch das Lachen, dieses verlegene und zugleich fröhliche Lachen eines schön beschenkten Kindes. Er ist mir sehr lieb. Das wußte ich gleich. ...
 
... Sein großer Pavillon, derselbe, der auf der Ausstellung am Pont Alma gestanden hat, ist nun in seinen Garten übertragen, den er scheinbar ganz ausfüllt, mit noch einigen Ateliers, in denen Steinhauer sind und in denen er selbst arbeitet. Dann sind noch Räume zum Tonbrennen und zu allerhand Handwerken. Es ist ein ungeheuer großer und seltsamer Eindruck, diese große helle Halle mit allen ihren weißen, blendenden Figuren, die aus den vielen hohen Glastüren hinaussehen wie die Bevölkerung eines Aquariums. Groß ist dieser Eindruck, übergroß. Man sieht, noch ehe man eingetreten ist, daß alle diese hundert Leben ein Leben sind, - Schwingungen einer Kraft und eines Willens. Was da alles ist - alles, alles. Der Marmor von La prière: Gipsabgüsse fast von allem. - Wie das Werk eines Jahrhunderts ... eine Armee von Arbeit. Da sind Riesenvitrinen, ganz erfüllt mit wundervollen Bruchstücken der Porte de L'Enfer. Es ist nicht zu beschreiben. Da liegt es meterweit nur Bruchstücke, eines neben dem andern. Akte in der Größe meiner Hand und größer ... aber nur Stücke, kaum einer ganz: oft nur ein Stück Arm, ein Stück Bein, wie sie so nebeneinanderhergehen, und das Stück Leib, das ganz nahe dazu gehört. Einmal der Torso einer Figur mit dem Kopf einer anderen an sich angepreßt, mit dem Arm einer dritten ... als wäre ein unsäglicher Sturm, eine Zerstörung ohnegleichen über dieses Werk gegangen. Und doch, je näher man zusieht, desto tiefer fühlt man, daß alles das weniger ganz wäre, wenn die einzelnen Körper ganz wären. Jeder dieser Brocken ist von einer so eminenten ergreifenden Einheit, so allein möglich, so gar nicht der Ergänzung bedürftig, daß man vergißt, daß es nur Teile und oft Teile von verschiedenen Körpern sind, die da so leidenschaftlich aneinanderhängen. - Seitenanfang
Quelle:
 
Nach näherer Bekanntschaft zu Rilke findet Rodin die Arbeiten Claras so interessant, daß er ihr empfiehlt, bei ihm zu studieren. Clara läßt Ruth bei den Eltern und fährt nach Paris, bleibt aber nur kurze Zeit dort. Rilkes Zimmer ist zu eng, als daß zwei Leute auf Dauer dort wohnen können und beide verdienen nicht genug für eine größere Wohnung. Zwischendurch werden er und Clara von Paula Modersohn-Becker besucht, allerdings ist die Freundschaft zu ihm erheblich abgekühlt, denn Rilke hat immerhin in der Zwischenzeit eine Monographie über Worpswede geschrieben, in der Paula Modersohn-Becker mit keinem Wort erwähnt wird und die fühlt sich zu Recht übergangen.
 
Übrigens ist Rodin von Paris eher abgeschreckt, denn der Unterschied zwischen der Worpsweder Idylle und einer der größten Millionenstädte der Welt ist schon sehr gewaltig. Deutlich wird dies bereits am Anfang des Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1904-1910), denn es zeigt, was Rilke ursprünglich über Paris gedacht hat:
 
11. September, rue Toullier.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden - man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.
 
 
Daß die Ehe mit Clara sich allmählich auflöst, scheinen beide zu akzeptieren und Rilke bleibt bis Anfang Oktober in Paris um zu schreiben. Er verbringt trotzdem viel Zeit im Pariser "Jardin", dem Zoo, und studiert dort Bewegungen der Tiere: Bären, Löwen und den "Panther", der als erstes der "Neuen Gedichte", entsteht:
 
Der Panther - Seitenanfang
Im Jardin des Plantes, Paris
 
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
 
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
 
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
 
 
"Das tägliche Leben" und das "Buch der Bilder" wird veröffentlicht. 
Anachronistisch (immerhin ist Rilke nun 27 Jahre alt, wirkt folgendes Gedicht aus dieser Zeit:
 
Der Knabe - Seitenanfang
Ich möcht einer werden so wie die,
die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,
mit Fackeln, die gleich aufgegangnen Haaren
in ihres Jagens großem Winde wehn.
 
Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne,
groß und wie eine Fahne aufgerollt.
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,
der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht
zehn Männer aus derselben Dunkelheit
mit Helmen, die, wie meiner, unstet sind,
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.
 
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum
mit der Trompete, welche blitzt und schreit,
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,
durch die wir rasen wie ein rascher Traum:
 
Die Häuser fallen hinter uns ins Knie,
die Gassen biegen sich uns schief entgegen,
die Plätze weichen aus: wir fassen sie
und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.
 
 
Komplett anders ist das nächste Gedicht, das Rilke am 21. September in Paris schreibt, als er sich ausgesprochen einsam fühlt. Die Unterstützung durch die Familie ist ausgesetzt , die Ehe mit Clara in Trümmern und sein Broterwerb sind die Gedichte, die sich nur schwer verkaufen lassen.
 
Herbsttag - Seitenanfang
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
 
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
 
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
 
 
1903 - Worpswede - - Schweden - Seitenanfang
Rilke unternimmt mehrerer Reisen unter anderem nach Italien (Rom, Venedig, Florenz) und schreibt von Ende März bis Ende April den dritten Teil vom "Stundenbuch" in Viareggio. Kurz danach fährt Rilke zu Auguste Rodin nach Paris und gibt ihm die Biographie "Auguste Rodin", die gerade in Berlin erschienen ist. Außérdem erscheint das "Worpsweder Tagebuch".
Clara ist Rilke mittlerweile nach Paris gefolgt um bei Rodin weiter zu studieren und Paula Modersohn-Becker ist ebenfalls dort. Im Sommer kehren Rainer-Maria, Clara und Paula Modersohn-Becker wieder nach Fischerhude zurück - für Rainer ist dort allerdings kein Platz mehr.
(Bresler 40f)
 
 
1904 - Schweden - Seitenanfang
 
Rainer Maria Rilke, ca. 1904
 
 
1905 - Schweden - Seitenanfang
Das "Stunden-Buch" erscheint. Wiederaufnahme des Philosophiestudiums in Berlin bei Georg Simmel. Rilke ist mittlerweile Rodins Privatsekretär, kann eine Zeitlang in seinem Gärtnerhaus wohnen (und Geld sparen, s.o.), führt seine Korrespondenz und knüpft Kontakte zu Mäzenen Rodins. Der Bildhauer wird von Rilke als eine Art Vaterersatz betrachtet und er saugt jedes Wort Rodins auf. Außerdem setzt sich Rilke mit den Bildern Paul Cezannes (1839 - 1906) auseinander
 
 
1906 - Schweden - Seitenanfang
Rilke verbringt wieder viel Zeit im Jardin du Luxembourg und dort, vielleicht nach einem Fest, schreibt er sein vielleicht bekanntestes Gedicht: „Das Karussel“


Das Karussel

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.



Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber -

Und dann und wann ein weißer Elefant.




Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel . . .

Fotos: Martin Schlu© 2013 - Seitenanfang


Als Rodin herausbekommt, daß Rilke in seiner Eigenschaft als sein Sekretär seine Kontakte genutzt hat um die Gedichte zu vermarkten, reißt ihm der Geduldsfaden und er feuert seinen Sekretär. Rilke hat damit gleich zwei Väter verloren, denn sein eigener ist vor kurzem gestorben.

Paula Modersohn-Becker malt Rilke in diesem Jahr:
 
Paula Modersohn-Becker; Porträt Rainer Maria Rilke, 1906,
Bremen, Sammlung Ludwig Roselius
 
 
Die durch den Jugendstil beeinflußte "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" erscheint.
 
Blaue Hortensie  (Juli 1906) - Seitenanfang
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
 
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
 
Verwaschen wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht;
wie fühlt man eines Lebens Kürze.
 
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
ist einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.
 
 Hortensie, © Susanne Coburger-Schlu, 2005
 
  
Bildnachweis:
Rilke 1904 (Fotographie), Rilke 1906 (Modersohn-Becker): urheberrechtlich frei, andere Bilder bei den Autoren
 
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