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Kulturgeschichte - 20. Jahrhundert - Nationalsozialismus


Nationalsozialismus

Das Mädchen Anne Frank
Margot
Die Geschichte der Familie Frank
Bergen Belsen
Annes Tagebuch
Miep Gies
Kitty
Verhaftung
Deportation
Die Zeit bis zum Untertauchen
Das Hinterhaus
Die Ankunft in Auschwitz
Der Bericht Fritz Franks
Hanneli
Krankheit und Ende

Literatur

Literaturempfehlungen

 

Anne Frank
Miep Gies
erstellt von Frederike v. Wehrs 15.Januar 2001

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In den vergangenen fünfzig Jahren seit dem Erscheinen von Anne Franks Tagebuch wurde Miep Gies immer wieder gefragt, wo sie den Mut hernahm, der Familie Frank zu helfen. Diese Frage, manchmal bewundernd, manchmal ungläubig formuliert, hat sie stets unangenehm berührt. Natürlich brauchte sie oft Mut, um ihre menschliche Pflege zu tun, sie mußte aber auch bereit sein, gewisse Opfer zu bringen. Aber das gilt doch für so viele Situationen im Leben.
 
Warum also fragte sie sich immer und immer wieder, stellt ein Mensch eine solche Frage? Warum zögern so viele, ob sie ihren Mitmenschen überhaupt helfen sollen?
 
Erst langsam begann sie zu verstehen. Die meisten Kinder hören von klein an von ihren Eltern:
 
„Wenn du recht brav und artig bist, wird es dir im Leben gut gehen."
 
Der Umkehrschluß wäre also: Wenn ein Mensch in Schwierigkeiten gerät, dann muß er sich schlecht benommen , muß einen ernsthaften Fehler gemacht haben - so einfach. So einfach fällt uns dann die Entscheidung, uns für solch eine Person nicht einzusetzen, uns „rauszuhalten".
 
Ihr Leben belehrte Miep Gies eines Besseren. Sie hat geholfen, weil sie wußte, wie leicht Menschen in Not geraten, ohne unbedingt etwas falsch gemacht zu haben. Sie ist in Wien geboren worden und war zu Beginn des Ersten Weltkrieges fünf Jahre alt. Ihre Mutter versicherte ihr immer wieder, dass sie ein braves, liebenswertes Mädchen und sie mit ihr zufrieden sei - zu hause wie in der Schule.
 
Als sie neun war, hatten sie nicht genug zu essen. Sie erinnerte sich noch genau an dieses quälende Hungergefühl, diesen stechenden Schmerz im Magen und die unangenehmen Schwindelanfälle, gegen die sie ankämpfen mußte. Den Schock, den sie erlebte, als ihre Eltern sie im Rahmen einer Hilfsaktion für hungernde, bedürftige Kinder nach Holland schickten, vergaß sie nie. Es war ein klirrend kalter Dezembertag im Jahre 1920, als ihre Eltern sie zum Zug brachten, ihr ein großes Schild mit einem fremden Namen um den Hals hängten, sich von ihr verabschiedeten und sie alleine ließen. Aber das verstand sie erst viel später. Sie war stark untergewichtig, litt an Tuberkulose und fühlte sich schrecklich einsam. Womit hatte sie verdient, so krank und verlassen zu sein? Ihre Mutter hatte ihr doch versichert, dass sie nichts falsch gemacht hatte...
 
Sie machte also schon als Elfjährige die Erfahrung, wie schnell man ganz und gar unschuldig in Schwierigkeiten kommt. Genau das, galt auch für die Juden im Zweiten Weltkrieg. Deshalb war es selbstverständlich für sie, zu helfen, soweit es in ihrer Macht stand.
 
Wenn sie erschütternd zur Kenntnis nahm, dass sechs Millionen Kinder, Frauen, Männer in den Tod gejagt wurden, sollten wir uns bei der Frage „Warum„ die weltweite Gleichgültigkeit der „ganz normalen„ - übrings durchweg anständigen, hart arbeitenden, oft gottesfürchtigen - Mitbürger vor Auge halten. Natürlich trägt das Nazi - Regime die Verantwortung für diesen Massenmord. Doch ohne die passive Haltung von so vielen (nicht nur in Deutschland und Österreich), im Grunde sicher guten Menschen, hätte das grausame Morden gewiß nie diese Ausmaß erreicht.
 
Sie konnte Annes Leben nicht retten - und war darüber tief erschüttert.
 
Sie konnte jedoch ihr helfen, zwei Jahre länger zu leben. In diesen zwei Jahren hat sie ihr Tagebuch geschrieben, das Millionen Menschen in aller Welt Hoffnung gibt und zu Verständnis und Respekt aufruft. Das bestätigt jede Überzeugung, dass jeder Versuch besser ist als Untätigkeit. Ein Versuch kann schiefgehen, bei Untätigkeit ist der Mißerfolg garantiert.
 
Sie konnte Annes Tagebuch retten und so dabei helfen, dass Annes größter Wunsch in Erfüllung ging.
 
"Ich will von Nutzen und Freude sein für die Menschen, die um mich herum leben und die mich noch nicht kennen"
 
vertraute Anne ihrem Tagebuch am 25. März 1944, etwa ein Jahr vor ihrem Tod, an.
 
"Ich will fortleben, auch nach meinem Tod."
 
Und am 11. Mai notierte sie:
 
„Du weißt, dass es mein liebster Wunsch ist, dass ich einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin werde."
 
Miep Gies, der gute Geist, der Familie Frank, der sowohl die Familie Frank, als auch und ihre Leidensgefährten in dem Amsterdamer Hinterhaus - Versteck versorgte, war die letzte Überlebende aus dem Umkreis von Anne Frank.
Miep Gies allein mag noch zu berichten, was damals geschah, als die Familie Frank „untertauchte„, um nicht deportiert zu werden. Sie rettete Annes Tagebuch für die Nachwelt, und nur sie kann Annes Aufzeichnungen bestätigen und ergänzen.
 
Sie war für die „Untertaucher„ das Bindeglied zur Außenwelt: zugleich Schutzengel, Ernährerin und Trösterin. Anne Franks Tagebuch und der Bericht von Miep Gies, das sind zwei Perspektiven der gemeinsamen Angst, des gleichen Schreckens und der verzweifelten Hoffnung.
 
Es war für Miep Gies eine Selbstverständlichkeit, den Verfolgten zu helfen. Schließlich hatte sie selbst ja von klein auf Not kennengelernt. Nach dem Krieg gab Miep das Tagebuch Otto Frank, dem Vater von Anne.
 
 
Immer wieder heißt es, dass Anne die sechs Millionen Holocaust-Opfer symbolisiert. Diese Darstellung halte ich für falsch. Annes Leben und ihr Tod sind ein individuelles Schicksal. Ein individuelles Schicksal, dass sechs Millionen Mal passierte. Anne kann nicht stellvertretend diesen Platz der vielen Individuen einnehmen, denen die Nazis ihr Leben geraubt haben. Sie soll es auch nicht. Jedes Opfer vertat seine eigenen Weltanschauungen und Ideale, jedes Opfer hatte ein einzigartige, persönliche Bedeutung für seine Verwandten und seine Umgebung.
Genau das Gegenteil haben Hitler und seine Helfer in ihrem Rassenwahn darzustellen versucht: den Juden als gesichtsloses Feinbild. Gleichzeitig haben sie sechs Millionen Individuen, sechs Millionen Einzelschicksale ausgelöscht und der Großteil der Menschen wollte es nicht einmal wissen.
 
Anne ist nur eine von ihnen. Ihr Schicksal machte uns jedoch den immensen Verlust, den die Welt durch den Holocaust erlitten hat, begreifbarer. Anne ein einfacher Teenager, hat mit ihrem Talent Herz und Verstand von Millionen von Menschen berührt und so ihr Leben bereichert. Wie sehr müssen wir uns bewußt machen, hätte Anne, wie sehr hätten alle anderen Opfer, jeder auf seine Weise, zu unserer Gesellschaft beigetragen, wenn sie hätten leben dürfen.
 
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